Kantianische Gedanken vor Michael Witlatschils selbständigen
Objekten
Kaum etwas dürfte heute schwerer sein, als einen Museumsbesucher
zu überraschen. Nachdem die Kunst dazu übergegangen
ist, die von ihr erwartete Erfahrungserweiterung durch spektakuläre
Selbstüberbielung zu betreiben, ist der moderne Rezipient
auf alles gefaßt, vor allem darauf, daß man ihn
schockiert. Wo aber erklärtermaßen provoziert werden
soll, wird sich niemand mehr ernstlich provozieren lassen.
Umso erstaunlicher ist es, wenn es einem Kunstwerk dennoch
gelingt, den Betrachter in ungläubiges Staunen zu versetzen.
Daß dies weder durch einen spektakulären Affront
noch durch grelle Effekte, weder durch hypertrophe Dimensionierung
noch durch eine neue Variation auf den Refrain vom Ende der
Kunst geschehen kann, versteht sich eigentlich von selbst.
Die wahren Sensationen der Kunst finden stets nur im Betrachter
statt. Dafür geben die Skulpturen Michael Witlatschils
ein Beispiel.
An diesen Arbeiten, insbesondere an den frühen, ist für
sich genommen kaum etwas bemerkenswert: Ein schlanker, mattglänzender
Metallstab zum Beispiel, beinahe zwei Meter hoch und am unteren
Ende schräg angespitzt. Sieht man von einer Kerbung in
der Spitze ab, könnte man das aufrecht stehende Stück
Stahl für eine sehr schmale, noch nicht aufgebohrte Orgelpfeife
halten. Andere Arbeiten brauchten noch nicht einmal den Blick
auf sich zu lenken: So ein vierkantiger Eisenpfahl, ebenfalls
unten zugespitzt, oben auf der ganzen Breite angewinkelt;
oder eine groß ausgeschweißte Stahlplatte, auffällig
nur deshalb, weil sie in einen schrägstehenden, übermannshohen
Träger eingeklinkt ist und bedrohlich in fast drei Metern
Höhe über dem Boden schwebt; oder auch nur der mehrfach
gewinkelte Vierkantstahl, der die Spuren von Walze und Fräse
noch deutlich erkennen läßt und eben nur wie ein
unfertiges Werkstück aussieht. Alle diese Stäbe
und Stangen wirken für sich betrachtet wie Bauelemente,
die nicht erkennen lassen, für welchen Zusammenhang sie
gedacht sind. Und da man ein zugehöriges Ganzes nicht
entdecken kann, bleiben auch die Teile ohne Bedeutung.
Und doch traut man seinen Augen nicht, wenn man diese Teile
zum ersten Mal aus der Nähe betrachtet. Die Skulpturen
sind nämlich nicht auf Podesten festgeschraubt, ihre
Spitzen sind nicht etwa in den Boden eingelassen, sie werden
auch nicht wie die »Filzwinkel« von Josef Beuys
gegen die Wand gelehnt, sondern sie stehen frei - ganz ohne
äußere Stütze. Sie halten Balance auf ihrer
nadelgleichen Spitze!
Man stelle sich vor: Hans Uhlmanns Stahlplastik von 1956 -
aber ohne die Verankerung in der Bodenplatte; Man Rays »Le
retour ä la raison« - aber nicht aufgehängt,
sondern hingestellt; Constantin Brancusis »L'oiseau«
(1940) -vom Sockel gelöst, herumgedreht und sich selbst
aufrecht auf dem Schnabel jonglierend. Man hält es nicht
für möglich und bekommt eben dies in Witlatschils
»Hohem Dreieck«, der »Feder« oder
im »Stand 15« mit massiver Eindringlichkeit
vor Augen geführt.
Durch die Raffinesse moderner Dekorationen an vieles
gewöhnt, glaubt man zunächst nicht, was man sieht.
Man sucht nach dem sichernden Nylonfaden oder schätzt
ab, wo verborgene Magneten für die stabile Stellung sorgen
könnten. Doch der lebensweltliche Argwohn findet keine
Anhaltspunkte -: keine gläserne Stütze, keine unsichtbaren
Drähte und erst recht keine verleimie Standfläche.
Die zwei- oder dreigezackte Spitze der stählernen Objekte
steht auf einer verspiegelten Scherbe. Man sieht,
daß da nichts ist, was Halt geben könnte. Der Körper
hält sich selbst im Gleichge wicht, wie ein
Kreisel, der sich nicht mehr dreht und trotzdem aufrecht stehen
bleibt.
Es ist ein stehender Widersprach. Die Bewegung ruht. Der Augenblick
ist gebannt. Das Fallende hält sich selbst. Die Asymmetrie
demonstriert ihre Ausgeglichenheit. Rohe Stahlelemente
posieren in einer stillgestellten Pirouette. Schwere Körper
scheinen nun mehr eine ironische Beziehung zum Boden zu unterhalten.
- Selbst wer schon durch Berichte wissen konnte, was ihn erwartet,
ist perplex, wenn die gespitzten Pfähle, die gewinkelten
Stäbe und die an gefährlich geneigten Stangen lastenden
Gewichte ausgeglichen vor ihm stehen. Es gibt Kinderspielzeug,
das im Kleinen ähnliche Konstruktionen erlaubt; aber
daß es möglich ist, meterhohe S tahlkonstruktionen
gleichsam Kopfstand machen zu lassen, ist
ein technisches Wunder .
Technische Leistungen aber lassen sich erklären
und rational nachvollzie hen. Die Konstruktionen
sind eben gut berechnet. Ihre millimetergroße Standfläche
liegt exakt unter ihrem Schwerpunkt, der Untergrund ist waagerecht,
Berührungen und Erschütterungen müssen vermieden
werden, und das große Gewicht erhöht nur die Trägheit,
begünstigt also die Standfestigkeit des Gebildes.
Alles das läßt sich kalkulieren und ausprobieren.
Und so bleibt von der ersten Verwunderung nunmehr
die Hochachtung vor dem handwerklichen Können des Erbauers.
Natürlich auch die Anerkennung seines originellen
Einfalls; seinen Möglichkeitssinn, nach Musil das
wichtigste Organ des Künstlers, hat er mit der gelungenen
Irritation des Betrachters unter Beweis gestellt.
Doch verbindet sich mit dem Erstaunen auch eine ästhetische
Erfahrung? Wodurch werden die technisch interessanten
Objekte zur Kunst?
Nichts scheint überflüssiger als diese Frage. Die
Beliebigkeit dessen, was sich heute als Kunst präsentiert,
macht sie zumindest praktisch folgenlos. Die Vorurteile gegenüber
begrifflichen Bestimmungen der Kunst sind mittlerweile so
stark geworden, daß man sich nur laut genug gegen Begriff
und Theorie erklären muß, um als Künstler
zu gelten. Aber selbst solche Gedankenlosigkeiten enthalten
mehr Gedankliches als ihnen lieb sein kann. Die propagierte
Mißachtung der Theorie beruht selbst auf einer Theorie
-wenn auch auf einer schlechten 1). Deshalb können wir
sie getrost übergehen. Begriffe und Theorien sind schließlich
keine zu den vermeintlich bloß konkreten Gegebenheiten
des Daseins hinzuerfundenen Allgemeinheiten, sondern sie ergänzen
nur die unvermeidliche Allgemeinheit einer jeden Verständigung
durch die Möglichkeit, sich über die Allgemeinheit
selbst zu verständigen.
Es sind also nicht die Theoretiker, die Begriffe und allgemeine
Bestimmungen in die Welt bringen. Die Begriffe sind spätestens
da, wenn Menschen sich durch Zeichen oder Worte verständigen.
Erfahrung ohne Begriffe gibt es nicht. Wem es gelänge,
sich gänzlich von ihnen freizuhalten, der würde
auch nichts mehr erleben. Theoretiker (wenn sie gut sind)
bringen die unvermeidlichen Allgemeinheiten unserer Erfahrung
lediglich zu Bewußtsein, machen es also möglich,
daß man Begriffe nicht nur gebraucht, sondern als solche
auch erkennt, näher bestimmt und gegebenenfalls korrigiert.
Und so kam auch die Theorie im Bereich der Kunst keine andere
Aufgabe haben, als die Mitteilungsfahigkeit zu erhöhen.
Wer glaubt, durch theoretische Urteile die Kunst faktisch
eingrenzen zu können, hat vermutlich eine falsche Auffassung
von der Kunst; mit Sicherheit hat er einen falschen Begriff
von Theorie.
Die Frage nach dem ästhetischen Charakter der freistehenden
Objekte zielt also nicht auf eine normative Zensur der künstlerischen
Produktion, sondern dient lediglich der besseren Verständigung
über die Erfahrungen, die sie uns ermöglicht. Freilich
bleibt die Verständigung nicht ohne Einfluß auf
die Erfahrung selbst. Die Differenzierung unserer Mitteilungsfähigkeit
läßt die Wahrnehmung nicht unberührt. Schon
die Diskussion darüber, ob etwas Kunst ist oder nicht,
verfeinert den Geschmack, wohlgemerkt: sie schafft ihn nicht,
aber sie bildet ihn.
Was also macht die technisch bemerkenswerten Objekte Michael
Witlatschils zu Gegenständen des ästhetischen Interesses?
Die Antwort scheint die Frage erst recht überflüssig
zu machen: Es ist zunächst und vor allem die technische
Perfektion, mit der eine Idee verwirklicht wird. Die Sicherheit
im Umgang mit dem Material, die Meisterschaft in der Beherrschung
der Mittel, legt immer noch den ersten Grund zur Kunst. Perfektion
ist nicht Sterilität, sondern nur der Ausdruck dafür,
daß Wollen und Können zur Deckung kommen. Die vollendete
Verfügung über den Stoff, in der die ältere
Ästhetik bereits das hinreichende Kriterium des Kunstwerks
namhaft machte, hat heute immer noch als notwendige Bedingung
zu gelten.
Worin allerdings die Meisterschaft zu sehen ist, das wird
weder von der Natur noch vom Stand der Technik objektiv vorgegeben,
sondern es bestimmt sich allein in Relation zur künstlerischen
Absicht. Beim ready made interessiert es nicht, ob der Künstler
es auch selbst hätte herstellen können; das action
painting hat sein Kriterium nicht in einer vorgestellten Form;
die do-it-yourself-Kunst ist überhaupt nur auf die Aktivierung
des Einzelnen gerichtet. Doch auch hier wird unterstellt,
daß jeder Einzelne, sei es in der freien Phantasie oder
in der getreuen Kopie, sein Bestes zu geben hat. Die Perfektion
der Aktionsmalerei liegt in der gesteigerten Unmittelbarkeit
des Ausdrucks, und das souveräne Können eines Marcel
Duchamp zum Beispiel tritt in der Kombination von Epochenbewußtsein,
Selbstironie, optischer Reizbarkeit und theatralischer Begabung
hervor. Gerade die Kunstdes20. Jahrhunderts hat uns gelehrt,
die ästhetischen Leistungen nicht erst an den Produkten
abzulesen, sondern sie bereits in den Prozessen zu erkennen,
und sie hier in allem zu entdecken, was die Empfänglichkeit
und Ausdrucksmöglichkeit des Subjekts steigert. Das Ziel
der Steigerung, wie z. B. Nietzsche sie aller Kunst zur Aufgabe
machte, ist nichts anderes als das vom antik (platonischen)
Sein ins modern (experimentelle) Werden transponierte Ideal
der Vollkommenheit, ist Perfektion unter Bedingungen einer
nur noch als Prozeß begriffenen Realität. Unter
solchen Bedingungen kann selbst noch der Zufall als Ingenium
begriffen werden, weil er Chancen sichtbar macht, die man
so vorher noch nicht kannte. Die Forderung, im ästhetischen
Akt das jeweils mögliche Maximum zu demonstrieren, ist
nicht suspendiert. Und dort, wo die künstlerische Absicht
auf die Herstellung von Körpern mit bestimmten Eigenschaften
zielt, zeigt sich das Beste immer auch im perfekten Umgang
mit dem Material.
Daß damit kein enger dogmatischer Maßstab angelegt
wird, tritt in der Auszeichnung der Skulpturen Michael Witlatschils
von selbst hervor. Für sich genommen wirken sie keineswegs
wie Meisterwerke. Die Stücke sind zum Teil so belassen,
wie man sie vom Stahlhandel beziehen kann. Bei einigen ist
auf die Oberfläche keine besondere Sorgfalt verwendet,
die Spuren von Schwingschleifer und Feile sind noch zu erkennen,
die eingehängten Platten könnten auch Abfallprodukte
sein. Ein Schtniedemeister fände für sie wohl so
wenig Anerkennung wie für die Plastiken von Richard Serra
oder Lucio Fontana. Zwar beweist Witlatschil in seinen jüngeren
Arbeiten, daß er sich auch auf eine gefällige Verarbeitung
des Materials versteht. Aber darin liegt nicht das Können,
von dem hier die Rede ist. Die ästhetische Absicht zielt
im Wesentlichen darauf, die Skulpturen zum freien Stand zu
bringen. Und nur in der Realisierung dieser Absicht zeigt
sich die Meisterschaft.
Dabei kann es den Effekt durchaus verstärken, wenn die
Körper grob, unbearbeitet oder unauffällig wirken.
So läßt das Aussehen nicht vermuten, was sie, in
die richtige Lage gebracht, vermögen. Um stehen zu können,
benötigen sie weder metallischen Glanz noch eine ideale
Form. Allerdings würde es ihrer Leistung auch nicht widerstreiten,
wenn sie optisch sinnfälliger gestaltet wären. Witlatschil
ist kein Romantiker der stofflichen Ursprünglichkeit
- was bei hochwertigem Stahl, der in jedem Fall einen aufwendigen
Herstellungsprozeß hinter sich hat, auch auf eine offenkundige
Dummheit hinausliefe. Ob polierte oder rauhe Fläche,
ob grobes oder feines Material, ob Augenmaß, geometrische
Berechnung oder wilde Maßlosigkeit - das sind selbst
wieder nur Formelemente, sofern sie sich einer leitenden
Absicht fügen. Die Absicht ist hier: labile Dinge ins
Gleichgewicht zu bringen, und sofern dies gelingt, tritt das
handwerkliche Können des Künstlers hervor, mag ihn
das ständische Handwerk schätzen oder nicht.
Die entscheidende Frage ist nun aber, was denn in diesem Können
hervortritt. Worin liegt die Kunst? - Offensichtlich nicht
darin, daß hier Gebrauchs- oder Tauschwerte geschaffen
werden. Natürlich, das ist eine Binsenwahrheit, kann
ein Kunstwerk auch nützlich sein, nützlich für
den Künstler, für seine Zeitgenossen oder für
die Nachwelt. Es kann theoretische Einsichten fördern,
religiöse oder pädagogische Ansichten vermitteln,
kann ein kulturelles Erbe repräsentieren oder als Wertanlage
dienen. Schließlich soll es auch den Lebensunterhalt
verschaffen. Alles das sind Nebeneffekte der Kunst, die sie
meist begünstigen und ihr nur selten Abbruch tun. Ihr
Wesen aber hat sie darin nicht, wie sich an den freistehenden
Objekten sinnfällig zeigt: Es ist keine pädagogische,
moralische oder sonst irgendwie verdienstvolle Tat, leblose
Dinge so aufzustellen, daß sie keiner Stütze bedürfen;
bei einer starken Erschütterung, vielleicht auch schon
bei kräftigem Durchzug, stürzen sie doch. Es ist
gewiß auch keine wissenschaftliche Leistung, die Körper
ins Gleichgewicht zu bringen; niemand wird behaupten, unser
Wissen über die Wirkkräfte der Gravitation sei dadurch
in irgendeiner Weise erweitert.
So gesehen sind die Objekte ohne alles Interesse. Was natürlich
nicht heißt, daß wir uns für sie nicht interessierten.
Im Gegenteil: Wir betrachten sie gern, reden
über sie und versuchen sogar, über sie zu schreiben.
Unter Umständen interessieren sie uns so stark, daß
wir sie am liebsten selbst besitzen möchten oder doch
wenigstens ihren Ankauf für ein Museum befürworten.
Die verschiedenen Interessen sind nicht der Grund für
die Anerkennung des Kunstwerks, sondern sie sind bereits
die Folge der erstaunlichen Tatsache, daß diese
Werke gar keiner moralischen, sozialen oder szientifischeu
Motive bedürfen, um uns anzusprechen. Sie sind also weder
nützlich noch erbaulich, stellen keine theoretischen
Einsichten dar und benötigen auch kein Ganzes, in das
sie sich zweckmäßig einfügen lassen. Sie genügen
sich selbst und machen eben dadurch Eindruck auf den Betrachter.
Die Selbstbezüglichkeit der freistehenden Skulpturen
aber kann es allein nicht sein, was unsere Aufmerksamkeit
erregt. Wir können jeden beliebigen Gegenstand in seinem
Umfeld isolieren und bloß als solchen betrachten. Aber
nicht jeder Gegenstand wird uns, nur weil er für sich
steht, deshalb auch schon gefallen. Ästhetisch wirkt
er nur dann, wenn er in sich eine gewisse Stimmigkeit hat,
wenn in seiner zufälligen Besonderheit doch etwas Einzigartiges
aufscheint, das uns nicht gleichgültig läßt.
Der ästhetische Gegenstand scheint uns etwas mitzuteilen,
das sich nicht eindeutig in Worte fassen läßt;
er hat eine Botschaft, die uns berührt, obgleich wir
nicht sicher sind, was sie bedeutet.
Das sind, in etwas anderer Umschreibung, die inzwischen klassisch
gewordenen Kriterien des Schönen, wie sie in Kants »Kritik
der Urteilskraft« entwickelt sind. Interesselosigkeit,
Zweckmäßigkeit ohne Zweck, Allgemeinheit ohne Begriff
und subjektive Notwendigkeit des Geschmacksurteils stellen
sich vor den freistehenden Plastiken wie von selber ein. Der
ganz seinem inneren Gleichgewicht überlassene Körper
ist sich selbst genug. Von jeder Stütze befreit, ruht
er in sich. Die Spitze, auf der er zu schweben scheint, berührt
auf der retlektierenden Scheibe nur ihr eigenes Spiegelbild.
In extremer Lage hat der Körper zu vollendeter Ruhe gefunden.
Er meditiert - und dies unter widrigsten Umständen. Gerade
weil man seine Gefährdung, die Labilität seiner
Balance vor Augen hat, wird er zum Ausdruck innerer Harmonie.
Es ist sinnlos, hier nach äußeren Zielen und Absichten
zu fragen; ein selbständiger Akt dieser Art ist in sich
selbst gerechtfertigt, er ist, wie es bei Kant heißt,
~>zweckmäßig«, ohne auf äußere
Zwecke bezogen zu sein.
Müßig wäre es auch, die Bedeutung dieses Akts
auf eine Aussage zu reduzieren. Er sagt uns vieles und möglicherweise
immer wieder etwas anderes. In der Wahrnehmung des Betrachters
werden die freistehenden Dinge lebendig. Sie halten sich auf
ihrer Spitze, wie Tänzer, die ihre extremste Stellung
genießen. In dieser künstlichen Position wirken
sie alles andere als unnatürlich und steif. Ja, die sperrigen
Teile zeigen Grazie und eine federnde Anmut. Man entdeckt
die Implikationen des aufrechten und freien Standes: Ohne
Mühe liest man menschliche Züge in die rohen Eisenstücke
hinein: sie erscheinen unabhängig, unbeschwert, j a sogar
heiter und stolz.
Bedenkt ma n, wie bedeutsam di e Metaphorik d er »Selbständigkeit«
und des »aufrechten Ganges« für das Selbstverständnis
des Menschen ist, wie sehr es in allem darauf ankommt, auf
»eigenen Füßen« zu stehen, in entscheidenden
Augenblicken »standhaft« zu bleiben und sich im
Alltag nicht aus dem »Gleichgewicht« bringen zu
lassen, dann versteht man, daß sich Anthropomorphismen
einstellen, wenn einfache Dinge mit einem Mal aufrecht stehen.
Stünden sie auf breitem, sicherem Fuße, käme
einem dieser Vergleich gar nicht in den Sinn. Da sie sich
aber auf ihrer Spitze in unwahrscheinlicher Lage halten, drängt
sich der Eindruck einer eigenen Leistung - und damit der Vergleich
mit dem menschlichen Subjekt- auf. Sie schaffen den aufrechten,
freien Stand, sie demonstrieren Haltung und wahren mit dem
Gleichgewicht auch überlegenen Gleichmut.
Das alles gelingt ihnen unter schwierigsten Bedingungen. Deshalb
scheinen sie dem Betrachter sogar noch etwas vorauszuhaben:
Sie führen ihm vor, was er von sich selbst verlangt.
Und indem sie zu Lehrmeistern in der ursprünglich menschlichen
Haltung werden, scheint mit dem artifiziellen Zehenspitzenstand
der Dinge die Beziehung zwischen Mensch und Dingen in paradoxer
Weise verkehrt: Es sind die Sachen, die hier den Menschen
belehren; sie setzen Möglichkeiten frei, in denen letztlich
nur er selbst sich verwirklichen kann.
So oder anders kann sich der Betrachter die Skulpturen deuten.
Er legt sie damit nicht fest und schöpft ihren Sinn nicht
aus. Aber was immer er aus ihnen heraushest, hat allgemeinere
Bedeutung. Das Kunstwerk repräsentiert mögliche
Wahrheiten und erschließt sie einem empfänglichen
Subjekt, das sich darin selbst als Repräsentant eines
größeren Zusammenhangs erfährt. Insofern greift
die ästhetische Erfahrung über die Zufälligkeit
des Augenblicks hinaus, freilich auch hier ohne eindeutig
zu werden. Ob »die Natur<, >das Leben« oder
>der Geist« zu mir als einem kreatürlichen oder
geistigen Wesen sprechen, das wird durch die Kunst selbst
nicht festgelegt. Gleichwohl ist das ästhetische Erleben
nicht privativ. Die schönen Dinge werden vor einem imaginären
Hintergrund erfahren, vor dem der Betrachter nicht allein
ist. Das gesteigerte individuelle Bewußtsein begreift
sich - und fühlte es sich noch so einsam - als repräsentativ.
Das Kunstwerk wird zum Zeichen Lind der Betrachter zum Organ.
Offen bleibt, wofür das Zeichen steht, und offen ist
nicht minder, wem das Organ eigentlich dient. Zu ermitteln
ist nur, daß im ästhetischen Akt beide, das Kunstwerk
und der Betrachter, exemplarisch werden. Man urteilt so, als
müsse jeder andere, der von ähnlichen Voraussetzungen
ausgeht, zur gleichen Ansicht gelangen. Daran ändert
wenig, daß mm bei anderen kaum auf gleiche Ansichten
stößt und auch das eigene Urteil sich als wechselhaft
erweist. Im Gefühl einer gesteigerten Subjektivität
treffen das, wofür das Kunstwerk steht, und das, wofür
sich der Betrachter hält, zusammen. In der individuellen
Konfiguration von Material und Form tritt etwas Allgemeines
hervor, das nicht nur das zufällig anwesende Individuum,
sondern prinzipiell alle Individuen betrifft, sofern sie sich
überhaupt vom ästhetischen Gegenstand ansprechen
lassen. Im ästhetischen Akt, so könnte man auch
sagen, werden Subjekt und Objekt transparent. Beide werden
zum Medium, durch das eine größere Einheit, der
beide zugehören, sich auszudrücken scheint.
Auf die Einheit, die das Kunstwerk repräsentiert, zielt
Kants Rede von der "Allgemeinheit ohne Begriff«,
und das Gemeinsame, für das die erlebende Subjektivität
exemplarisch ist, tritt unter dem Titel der »Notwendigkeit«
des Wohlgefallens hervor. Die freistehenden Skulpturen erlauben,
den Gehalt dieser abstrakten Bestimmung sinnfällig zu
machen: Die einzelne Figur steht nicht für sich allein,
sondern sie führt etwas vor, was prinzipiell allen Körpern
möglich ist; insofern drückt das Urteil, sie sei
»schön< etwas Allgemeines aus. Und so gibt eine
schöne Skulptur dem Betrachter zugleich ein Beispiel
für etwas, das nicht nur ihn selbst in seiner Existenz
berührt;
insofern glaubt er gar nicht umhin zu können, seine Zustimmung
auszudrücken. Der Vieldeutigkeit des Kunstwerks korrespondiert
somit der Bedeutungsaufschwung seines Betrachters. Während
sich das eine (das ästhetische Objekt) zum Symbol verdichtet,
erfährt sich der andere (der »belebte«, der
»begeisterte« Betrachter) als dessen möglicher
Schlüssel. In der Distanz zu den Gemeinplätzen des
Alltags stehen sich das höchst subjektive Produkt eines
Künstlers und ein subjektiv urteilender Museumsbesucher
gegenüber; indem der Betrachter aber die »Sprache«
des Kunstwerks zu vernehmen glaubt, verleiht er nicht nur
dem ästhetischen Gegenstand einen objektiven Rang, sondern
er macht sich selbst zum Organ eines Allgemeinen. Diese Selbstaufwertung
beider Seiten läßt sich in der ästhetischen
Erfahrung der freistehenden Skulpturen numerisch nachvollziehen,
indem man wechselweise das Objekt und sich selbst mit dem
ausstattet, was erst dem anderen und dann einem selbst noch
fehlt. Freiheit, Selbständigkeit, Gleichmut und Konzentration
auf sich selbst werden, wie in der psychoanalytischen Übertragung,
erst dem anderen zugemutet, um sie dann selbst wieder von
ihm zu übernehmen.
Als ersten Akt einer Übertragung kann man bereits die
Aufstellung einer Plastik durch Michael Witlatschil deuten.
Ich sage nicht, daß man eine solche Aufstellung gesehen
haben muß, um die selbständigen Objekte zu würdigen.
Sie machen auch so Eindruck und sind auf eine »Aktion«
nicht angewiesen. Es dürften auch nicht die besten Bilder
oder Statuen sein, die man erst schätzen kann, nachdem
man ihrer Entstehung beigewohnt hat. Wenn dem Drama ihrer
Produktion eine besondere Bedeutung zukommt, wenn Spontaneität,
meditative Versenkung oder Ekstase eine besondere Rolle spielen
sollen, dann müssen sie trivialerweise ins Kunstwerk
selbst eingehen und auch darin sichtbar bleiben.
So ist es auch bei den freistehenden Skulpturen. Sie halten
den Augenblick ihrer Aufstellung fest. Die offenkundige Gefährdung
ihrer Stellung läßt am Wagnis der Exposition nicht
zweifeln. Da man sieht, wie leicht sie stürzen können,
hat man auch gleich im Blick, daß es außerordentlicher
Geschicklichkeit bedarf, um sie in die aufrechte Position
zu bringen. Die Verwunderung darüber, daß es überhaupt
möglich ist, so exzentrische Gestalten ihre eigene Ruhe
finden zu lassen, ist hier schon ein Bestandteil der Wahrnehmung.
Also bedarf es der Teilnahme am Akt ihrer Aufstellung nicht,
um die Spannung und das Glück vor diesen Figuren zu genießen.
Gleichwohl hat es einen zusätzlichen Reiz, den Künstler
bei der Errichtung einer seiner Skulpturen zu beobachten:
Auf die Präparierung der Standfläehe verwendet er
weniger Sorgfalt als man vermuten möchte. Der Boden wird
nur kurz abgewischt, die Glasscherbe mit dem Ärmel blankgerieben
und schon wird das Metallstück aufgesetzt. Dann aber
setzt Spannung ein: Der Stab wird in die mutmaßliche
Mittellage dirigiert und dann seiner eigenen Neigung überlassen.
Natürlich kippt er sofort, droht mal nach dieser, mal
nach der anderen Seite zu fallen. Wo immer er sich neigt,
wird er augenblicklich mit sanftem Fingerdruck korrigiert.
Fällt er den stützenden Fingern nicht gleich wieder
hinterher, dann kippt er in eine andere Richtung.
Soll er hier nicht stürzen, ist Gegendruck von dieser
Seite nötig . So wird der Stahl immer von neuem
sich selbst überlassen und um Bruchteile von Millimetern
seiner Gleichgewichtslage näher gebracht. Wenn es gut
geht, werden die Abweichungen immer geringer und sind für
das Auge schließlich kaum noch wahrnehmbar. In immer
kleiner werdenden Schwankungen nähert sich das Objekt
seiner Ruhestellung.
Der Künstler verläßt sich ganz auf das Gespür
seiner Hand . Die Beine leicht gespreizt, die Standscherbe
nur wenige Zentimeter vor sich und den Blick auf die Spitze
und ihr Spiegelbild gesenkt, steht er mit der konzentrierten
Spannung eines buddhistischen Bogenschützen. Äußerlich
regungslos demonstriert er innere Festigkeit, als wolle er
dem labilen Metall ein Beispiel geben. Die Kommunikation mit
dem Gegenstand ist sichtbar, eine lautlose Überredung,
wie eine Beschwörung, die keiner Worte bedarf. Eine spiritistische
Übertragung wäre so gewiß äußerst
wirkungsvoll inszeniert. Und wenn es nicht Magie ist, dann
ist es Erziehung, Assistenz bei der Vollendung eines akrobatischen
Akts.
Gelegentlich kommt es vor, daß der seinem Kunstwerk
assistierende Künstler die Suche nach der Gleichgewichtslage
aufgeben muß. Dann wird die Spitze auf dem Glas um Millimeter
verschoben und von neuem justiert. So kann es zehn, zwanzig
Minuten, j a bis zu einer Stunde dauern, bis die Plastik ihre
Stellung in der mimetischen Angleichung zweier Körper
gefunden hat. Die Fähigkeit des einen geht auf den anderen
über. Im autonomen Stand schwingt der stählerne
Körper nur noch leicht in sich, schwankt aber nicht mehr
und hat mit einem Mal die freie Haltung, die ihn seinem Produzenten
ähnlich macht.
Ehe es so weit ist, löst sich die Hand zögernd von
dem Metall, faßt wieder zurück, stützt und
lenkt noch einmal unmerklich, gibt dann schon etwas mehr Spielraum,
geht noch mehrmals hilfsbereit in die Nähe, ohne aber
berühren zu müssen und entfernt sich schließlich
behutsam von der Figur, die nunmehr frei, ganz sich selbst
überlassen steht.
Wer jemals eine solche Aufstellung miterlebt hat,
der wird nicht zögern, sie dramatisch zu nennen. Wenn
der Künstler, sein Objekt sekundenlang noch wie ein Dompteur
fixierend, langsam zurücktritt und seine Haltung sich
allmählich entspannt, löst sich auch die Spannung
des Betrachters. Ein gewagter Dressurakt ist gelungen. Ein
Mensch hat eine Sache belehrt, hat einem einfachen Gegenstand
eine komplizierte Leistung beigebracht und ihm damit zu einem
veritablen Kunststück verholfen. Dem ingeniösen
Künstler gelingt es, aus einem überlastigen Stahlstück
einen Akrobaten zu machen - »Akrobaten«, das sind
nach dem griechischen Wortsinn die, »die auf der Spitze
stehn,<.
Die Akrobatik der Dinge wird hier nicht nur ohne sensationelle
Effekte vorgeführt; sie kommt auch ohne Verrenkungen
und Gewaltsamkeiten aus. Nachdem die Stangen und Stäbe,
die Pfeiler und Platten erst einmal ihre Form haben, brauchen
sie nur noch in ihr Gleichgewicht gebracht zu werden, um in
die scheinbar schwerelose Spitzenstellung zu finden. Ihnen
wird nichts aufgezwungen. Die Dressur befördert sie lediglich
sanft in ihr eigenes Gesetz. Es gibt daher einen guten Sinn,
von ihrer »Autonomie« zu sprechen. Sie haben in
ihrer physischen Existenz bereits die Eigengesetzlichkeit,
die ihnen als Kunstwerk im übertragenen Sinn zukommt.
So wie sie als ästhetische Produkte auf keinen gründenden
oder bindenden Sinn angewiesen sind, so bedürfen sie
auch in ihrer Selbständigkeit keiner äußeren
Stütze. Sie folgen allein ihrer Schwerkraft und werden
darin frei. So repräsentieren sie in ihrer materiellen
Konstitution ihren ideellen Gehalt. Auch in dieser Hinsicht
wird die ästhetische Erscheinung an diesen Objekten exemplarisch:
Das Prinzip, welches sie zu Kunstwerken macht, bestimmt auch
ihr reales Dasein, wodurch ihr ästhetischer Reiz sich
notwendig steigert.
Diese Notwendigkeit läßt sich nur behaupten, weil
es hier um Dinge geht. Träfen wir in der gleichen Verschränkung
die existentielle und die ästhetische Autonomie beim
Menschen an, hätten wir ein Wesen vor uns, das selbständig
und in dieser Selbständigkeit auch schön zu nennen
wäre. Damit aber liefe die Verschränkung auf eine
Identität des Schönen mit dem Guten hinaus, eine
Einheit, die wir zwar wünschen können, auf die wir
vielleicht sogar hoffen dürfen, die wir aber schon nicht
mehr begründen können. Bei den autonomen Objekten
dagegen ist die Einheit von innerer Bestimmung und äußerer
Form bereits das gegebene Prinzip ihrer Existenz. Mit der
Vollendung des einen, d. h. im freien Stand, ergibt sich unmittelbar
auch die Entfaltung des anderen, d. h.: der ästhetische
Reiz. Mit dem einen würde unvermeidlich auch das andere
zerstört.
Das ist natürlich ein höchst spekulativer Gedanke,
der vor allem nicht dazu verleiten darf, die das ästhetische
Erleben tragende Analogie zwischen dem aufrechtstehenden Menschen
und dem freistehenden Ding aus dem Blick zu verlieren. Natürlich
gibt es den Unterschied zwischen dem selbsthandelnden menschlichen
Subjekt und dem von fremder Hand in eine Gleichgewichtslage
gebrachten Objekt. Im strengen Sinn des Wortes kommt der Begriff
der Autonomie nur menschlichen Handlungen und Urteilen zu,
und hier gibt es keine eindeutige Entsprechung zwischen einer
autonomen (moralischen) Tat und einem autonomen (ästhetischen)
Urteil. Wenn wir uns aber die ästhetische Freiheit nehmen,
auch ein auf seiner Spitze balancierendes Objekt als »autonom«
zu bezeichnen, dann gerät diese Autonomie derHaltung
nicht in Widerspruch zur Autonomie des Schönen. Im Gegenteil:
Die freie Haltung bringt den ästhetischen Reiz erst hervor.
So unterscheiden sich der autonome Mensch und das autonome
Ding in ihrer Beziehung zur Schönheit.
Doch daß wir überhaupt von »autonomen Dingen<
sinnvoll sprechen können, hat seinen Grund bereits in
der unterstellten Analogie zwischen dem Menschen und den freistehenden
Objekten. Wir suchen ein Gegenüber und finden es in überlegener
Form in den erst von uns zur Mündigkeit gebrachten Dingen.
Wir suchen nach dem Adeal der Schönheit«, wie Kant
es nannte, nach unserem Ebeabild also. Es tritt uns in den
Plastiken Michael Witlatschfls in äußerster Abstraktheit
entgegen. Wären nicht die Titel einiger Arbeiten, dann
würde nichts an ihnen nötigen, eine Beziehung zum
Menschen herzustellen. Gleichwohl bietet sich die Identifikation
mit ihnen an: Mit äußerem Beistand in eine höchst
gefährdete Lage gebracht, letztlich ohne sichernden Halt
auf einem zerbrochenen Spiegel stehend, unter sich erkennbar
nur den Antipoden - und sonst nichts. Es fällt nicht
schwer, darin auch ein Sinnbild der menschlichen Existenz
zu entdecken. In den Werken mit dem Titel »Ich«
ist die Assoziation zur existentiellen Selbsterfahrung sogar
thematisch vorgegeben.
Die jüngeren Arbeiten Witlatschils führen vor, daß
der freie Stand nicht notwendig Einsamkeit bedeutet. In der
Serie »Näherung A«, >B<, »D«
usw. balancieren zwei aufeinander bezogene, sich aber nicht
berührende Objekte auf einer Scherbe. Sie vollziehen
die gleichen Schwingungen, verjüngen oder verstärken
sich aufeinander zu. An jeweils einem Ende nähern sie
sich asymplotisch, am anderen Ende streben sie ins Unendliche
voneinander fort. Die Selbst-Ständigkeit der beiden Teile
ist nicht aufgehoben; jedes steht für sich allein und
bildet doch mit dem anderen eine Einheit. Sowohl in der äußeren
Form wie auch in ihrer riskanten Existenz sind sie aufeinander
bezogen.
Wenn man die Skulpturen als Symbole der menschlichen Existenz
versteht, dann sollte man das Herausfordernde in ihrer Präsentation
nicht übersehen. Aus der Zumutung des freien Standes
wird ein leichter, tänzerischer Akt. Die Dinge erweisen
sich als gelehrig und bringen es zu eigener Meisterschaft.
Die ihnen mit der Trennscheibe und unter dem Schneidbrenner
aufgenötigte Form wird zu geschlossenen, eindrucksvollen
Gestalt, sobald sie in ihr Gleichgewicht gefunden haben. Neben
schön bearbeiteten Säulen (»Die Kupferne«)
sehen wir schräge, fleckige Rollen (»Stand XIV«),
eingeknickte Stäbe und mehrfach gewinkelte Stangen. Die
Willkür ihrer Formgebung wird aber aufgehoben, sobald
die Dinge sich aus eigener Kraft aufrecht halten. In der Selbstbeherrschung
verschwinden die Zeichen der äußeren Bearbeitung.
Alles fügt sich der mit dem freien Stand evident werdenden
»inneren« Notwendigkeit.
Hierin liegt das Vorbildliche der Figuren. Sie demonstrieren
die Fähigkeit der Integration auch noch des Fremdesten
in ihr eigenes Wesen. Was immer ihren aufrechten Stand erlaubt,
gehört ihnen zu. Daß auch den Menschen diese Fähigkeit
auszeichnet, scheint vergessen, wenn heute jeder Wandel der
Lebenswelt als »Entfremdung« beargwöhnt wird.
»Entfremdung« kann
nur entstehen, wo ein unverwechselbares Selbst, etwas >~Eigenes~<,
gegeben ist. Ein solcher unverwechselbarer Wesenskem des Menschen
dürfte aber schwerlich auszumachen sein. Das Eigentliche
des Menschen liegtwohl eher in seinem Verhältnis zu den
Dingen und zu sich selbst. Das Humane ist an keine Substanz
gebunden, sondern es zeigt sich in Relationen, also darin,
wie sich der Mensch zur Welt in Beziehung setzt. Wenn dies
nur, wie bei den freistehenden Objekten, aufrecht, selbst-ständig,
d. h. in eigener Verantwortung geschieht, wird der Mensch
sich selbst nicht fremd - seine Lebensbedingungen mögen
sich wandeln, so schnell sie wollen. Es ist stets der aus
»krummem Holz« geschnitzte Mensch, der aufrecht
geht. Wer in dieser Äußerung hatmarmel Kants einen
Widerspruch vermutet, dürfte darin nach der Betrachtung
der Figuren Michael Witlatschils nicht mehr so sicher sein.
Um nicht den Eindruck zu erwecken, alle Betrachtung der homoostatischen
Objekte laufe auf die Analogie mit dem Menschen hinaus, möchte
ich mit einer kunsttheoretischen Frage schließen: Was
zeigt sich in diesen Skulpturen eigentlich: Schönheit
der Kunst oder Schönheit der Natur? Nach dem Lob auf
die technische Perfektion der Produktionen mag die Frage abwegig
erscheinen. Natürlich ist hier ein Künstler am Werk,
der nach seiner freien Vorstellung tätig ist. Und wie
andere Künstler auch bedient er sich mehr oder weniger
natürlicher Materialien, in deren Verwendung er auf Naturgesetze
angewiesen ist. Jeder Bildhauer rechnet mit der Schwerkraft;
deshalb montiert er seine Objekte ja fest auf einen Sockel.
Jeder Maler vertraut auf die optischen Gesetze und verläßt
sich darauf, daß seine Farben trocknen. Insofern bleibt
auch die subärriste Kunst an Naturkräfte gebunden.
Man sieht aber sofort, daß die Vergleiche hinken. Witlatschil
vertraut nicht nur auf das Naturgesetz der Gravitation, sondern
er stellt es dar. Er stellt es zumindest insoweit dar, wie
auch die Mobiles die Hebelwirkungen oder die Luftströmung
zur Anschauung bringen. Deshalb ist es angemessen, die Mobiles
von Alexander Calder, wie Sartre es tat, als Zwischenwesen
zu bezeichnen: als »lyrische Schöpfungen und zugleich
technische, beinahe mathematische Gebilde und überdies
auch als das eindrucksvolle Symbol der Natur, jener großen,
unfaßbaren Natur.. « 2). Kommt in den ganz und
gar ihrem eigenen Gewicht anheimgestellten Körpern nicht
die Natur noch deutlicher zum Vorschein? Sieht man nicht von
allen bewußt erzeugten Eigenschaften des Gegenstandes
ab? Seine Form und seine Oberfläche werden sekundär.
Entscheidend ist allein, daß der Körper steht.
Diese Tatsache entsteht allein durch die ingeniöse Nutzung
natürlicher Bedingungen. Sie wird zwar durch Technik
vorbereitet, ist als solche aber reine, immer schon wirksame
Natur. Der Künstler fungiert als versierter Arrangeur
eines Naturereignisses. Unter hochzivilisierten Bedingungen,
in der kunstvollen Umgebung eines Museums gelingt ihm das
veritable Kunststück, einen elementaren Vorgang der Natur
in seiner berechenbaren Schlichtheit sichtbar
zu machen. Unter artifiziellen Bedingungen ist es nichts als
Natur, die sich hier ~>schön« - und nach einiger
Betrachtung auch »erhaben~ - zeigt.
Und doch wird man mit dieser gewiß zutreffenden Antwort
nicht zufrieden sein. Zu offensichtlich ist die genau kalkulierte
menschliche Leistung, die der Natur dazu verhilft, ihre Eigenart
auf überraschende Weise zu zeigen. Es ist eine durch
Technik gelenkte, durch Arbeit disziplinierte und zugleich
animierte Natur, die sich hier so selbständig darstellt.
Die »freie« Natur, durch planvolle Absicht gezwungen,
tritt hervor. Von einem Gegensatz zwischen Herrschaft und
Freiheit kann hier keine Rede sein. Die Natur ist zum Mitspieler
des Menschen geworden. Sie läßt sich auf den ein,
der sich auf sie einläßt. Indem die Plastiken Michael
Witlatschfls dieses Zusammenspiel mit höchster Perfektion
und doch absichtslos sichtbar machen, gehören sie zur
Kunst - eine große Kunst, wie mir scheint.
1) Vgl. d: U. Fwk, / V, Gerhardt, Die Kunst gibt zu denken
Münster 1981, 10-19.
1) J.-P. Sartre-, Les Mobiles de Calder, i. Ausstelungskatalog
f. A, Calder, Paris, 25. - 16. Nov. 1946.