Gert Reising

»Empfinden, Denken und Handeln, Erfahrungen mit der Skulptur »Näherung A« von Michael Witlatschil«

Gerhard Mantz machte mich auf Michael Witlatschil aufmerksam, er betonte die Nähe zu seinen Gemälden. Mantz malt schwebende Farbraumkörper, Lanzette zumeist; ihre Existenz rührt aus dem Wechsel und Austausch von Substanz und Energie. Flirrende Farbsubstanz löst die Materie - Holz und Farbe - aus ihrer Statik, energiegeladene Elemente entstehen; es sind Kunstsubjekte.

Gerhard Mantz, der Maler Ludwig Arnold, Claudia Pohl und ich fuhren in Michael Witlatschils damaliges Ettlinger Atelier. Es war Gerhard Mantz' Schauraum nicht unähnlich: fast leergeräumt und sehr weiß; ein freies Ambiente. Auf einer Arbeitsplatte lagen Eisenstangen, das war's schon fast.

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Michael Witlatschil legte eine kleine handgroße Spiegelglasseheibe in die Mitte des Raums, überprüfte ihre Festigkeit auf dem Boden und ging dann zu den Stangen, nahm ruhig einen der Vierkantstäbe, wischte ihn mit einem Lappen ab, wog den schmalen Vierkant wie einen Speer und stellte sich dann leicht breitbeinig vor die Spiegelscherbe: Er benötigte wohl selbst etwas Standfestigkeit, um die schwere Stange aufzustellen. Dies konnte kaum gut gehen, war das Metall doch lang und sehr schmal, die Standfläche, daher gering. Während Michael Witlatschil balancierte, war er sehr konzentriert; wir blieben neugierig stehen, die Stille übertrug sich. Es klappte nicht; er legte die Stange beiseite, verlagerte leicht den Spiegel und begann erneut den Balanceakt. Es ging sehr rasch, bis die Stange frei war, Michael Wirlatschil öffnete abwartend die Hände, hielt sie schützend um die Stange und entfernte sich dann selbstbewußt und entspannt ein paar Schritte, zunächst die Stange abschätzend, dann uns beobachtend.

Wir begannen ein mir später wohlbekanntes Ritual. Wir bewegten uns zunächst nicht, wohl, um die Verbindung zwischen Michael Witlatschil und dem Objekt nicht zu zerstören; ich fragte dann, kopflastig, ob das Objekt frei stünde und nach einem Kopfnicken konnte ich mich vorwärtstasten. Wir waren vorsichtig, lange konnte die Stange so wohl nicht stehen bleiben. Nun war das spitze Ding bedrohlich; aus einem passiven Objekt, einem einfachen Vierkant, war ein selbständiges Objekt geworden. Ich kam mir mutig vor, als ich erkunden wollte, wie - und warum der Stahl dort ausharrte. Eher leise, Erschütterungen vermeidend, gingen wir um das Objekt herum, kamen der neuen, fremden Person näher; ich wollte schon darauf achten, daß sie mich nicht erschlug, wenn sie umfiel. Es vergingen gewiß drei, vier Minuten, in denen uns Michael Witlatschil genau beobachtete. Tapfer konzentrierte ich mich nicht mehr nach oben, auf die Spitze des Spießes, um zu erkennen, wann der Stahl niederkam, sondern pendelte mit den Augen zwischen Spieß und Fuß hin und her. Die Bewegungsarmut durch den psychischen Druck kämpfte mit meiner Neugier, sie wandelte sich nach und nach zum physischen Drang, das Ding zu erobern. Meine Angst vor dem Umfallen, die ich auf die Stange projizierte, wechselte mit Rationalisierungen: warum kippte dieses Objekt, das ich bereits zu einer fremden Person erhoben hatte, nicht? Warum gab es keinen Unfall?

Manchmal blickte ich hilfesuchend zu den anderen, ging es ihnen ähnlich? Wir maßen uns mit dem schmalen, langen Körper, gesellten uns vorsichtig ihm zu. Der mutige Blick in die Spiegelplatte ließ mich eher erschrecken als verwundern: der Stahl ging schräg nach innen, kippte er? Wenn nicht, weil keiner warnend rief: wie konnte der Stahl so schmal stehen? Ich ging wieder zurück, nun doch weniger zögerlich und skeptisch, ich hatte das Bedrohende in mir ausgelebt, es lag nicht an der Skulptur.

Das Objekt stand aus sich selbst heraus. Es fiel auch nicht um, als nach einiger Zeit eine Straßenbahn in der Nähe ihre Gleise zog; es ratterte, der Boden schütterte leicht, der Stab blieb. Dies war, so schien mir, auch Michael Witlatschil Bestätigung, daß sein Kunststück stand.

Minuten meiner Verunsicherung waren vorüber. Meine Angst hatte mir einen Streich gespielt, ich hatte nach fremder Autorität verlangt, um über das stehende Objekt Auskunft zu erhalten. Damit hatte die Skulptur wenig zu tun, wenngleich die Aktion, das Objekt aufzustellen, aufregend war. Doch erst die Vergewisserung darüber, daß der Stahl fest blieb, hatte mich aus der Passivität entlassen; staunend stellte ich nun Fragen, bewegte mich frei um das Objekt, dessen Aura ich verstärkt wahrnahm: Es war nicht mehr allein ein Stahlvierkant, um den sich eine Aktion rankte, sondern eine Skulptur.

Michael Witlatschil zeigte uns ein weiteres Bildwerk. Es handelte sich um eine Erweiterung des ersten Objekts, welches wir gesehen und gespürt hatten. Aus »Ich« war jetzt ein Paar geworden: »Näherung A (Abb. S. 56-59), zwei gleich große Stäbe. Unten war der Vierkant so angesehrägt, daß nach einer etwa fünf Zentimeter langen Schräge ein Dreieck als schmale Basis entstand. Oben, in Überlebensgröße, war die Abschrägung länger und wurde sehr spitz. Die Skulptur stand rasch, obwohl sich die erste stehende Stange gegen die zweite zu wehren schien, bis diese dann auch ihren festen Stand bewies. Gerhard Mantz meinte, es handelte sich um Abstoßungskräfte um die einzelne Stange herum. Er betrachtete das Objekt dabei unter einem physikalischen Aspekt, indem er wohl magnetische Kräfte bemerkte, zugleich kam ihm gewiß auch menschliche Ausstrahlung - Wärme oder Kälte -in den Sinn.

Eine dritte Skulptur wurde aufgestellt, nachdem unsere Neugier sehr groß geworden war. Michael Witlatschil steckte viele Stäbe ineinander, balancierte; er hatte Mühe, ihr Gleichgewicht zu erzeugen. Ich hätte sie nie aufstellen können, das schuf etwas Distanz.

Später zeigte er uns Fotos aller seiner Arbeiten. Wir entschlossen uns, »Näherung A« zu kaufen, so wenig dies vor dem Besuch in irgendeiner Weise beabsichtigt war. Der Entschluß war spontan, für Claudia und mich überraschend. Es kam ein Kasten hinzu, der die Arbeit aufnahm, wenn sie nicht aufgebaut wurde, eine Woche später wurde uns die Skulptur gebracht. Wie ein Zauberer vermochte Michael Witlatschil die Arbeit binnen zwei Minuten zu erledigen, verpackte die Skulptur wieder im Kasten und forderte Claudia und mich auf, das Aufstellen zu proben, selbst aktiv zu werden: als Besitzer müßten wir mit der Skulptur auch richtig umgehen können.

Die Skulptur benötigt freien Umraum, um die Achsen ohne Überschneidungen wirksam werden zu lassen, ferner muß die Skulptur umschreitbar sein. In diesem Freiraum, der von leeren, weißen Wänden umgeben ist, liegt die Spiegelglasscheibe auf dem Fußboden, sie ist dort fremd. Von diesem Stellplatz getrennt steht der Kasten, der schräg an der Wand lehnt. Der Holzkasten ist mit Filz ausgelegt und kann mit vier Schrauben verschlossen werden: eine magische Box. Selbst wenn der Kasten geöffnet ist und man auf beide Stangen in ihrem Filzfutter sehen kann, ist es kaum möglich, unbefangen Zusammenhänge mit einer Skulptur herzustellen.

Es handelt sich um ein Arrangement, dessen Konzept verborgen bleibt: es sind Dinge, Objekte in einem Haushalt der allerdings Assoziationen an Kunst erleichtert. Dieser Zusammenhang mag wiederum Neugier erwekken, aus der Scherbe einen Teil eines möglichen künstlerischen Prozesses zu entwickeln. Die Scherbe gewinnt eine geringe ästhetische Dimension, indem sie aus ihrem Gebrauchszusammenhang gerissen wurde und an einem fixierten Ort autonom lagert. Der Kasten ist ebenso in geschlossenem Zustand ein geheimnisvolles Ding. Da es kein Gebrauchsgegenstand sein kann, muß es sich um ein Kunstwerk handeln, dessen Sinn sich aus der Erwartung ergibt, daß ästhetische Handlungen vorstellbar sind. Das Geheimnis entwickelt sich aus seinem bloßen Dasein. Die Tradition läßt sich über Reinhard Muchas graue Kästen, Timm Ulrichs Konzeptkunst bis zu Man Rays »Geheimnis des Isidore Ducasse« (1920/21) und Marcel Duchamp zurückverfolgen.
Ist dort die Abneigung rationalistisch-mythisch, indem das Werk durch seinen rituell-auratischen Charakter zum Kunstwerk wird, so ist Michael Witlatschils »Objekt« Teil einer Skulptur, die klassischen Kategorien Gerfüge leistet. Doch entsteht zunächst aus dem bloßen Dasein der Objekte ein Geheimnis.

Die Aufstellung der Skulptur beginnt mit der Suche nach einer Basis. Die Glasplatte muß möglichst plan auf dem flachen Boden liegen. Ob der Grund wirklich horizontal ist, wird gefühlsmäßig erfahrbar; bewahrheiten läßt sich dies erst, wenn - falls - die Skulptur steht. Mm kann dem vorbeugen: eine flache Stelle wählen, den Staub vom Boden entfernen, möglichst viele Punkte finden, auf denen die Glasscheibe ruhen kann.

Danach wird eine der beiden Stangen aus dem Kasten herausgeholt. Der Vorgang, die Stangen auf die Glasscheiben zu stellen, kann experimentell gefunden werden, indem mm aus der sinnlosen Verbindung des Kastens mit der Spiegelglasscheibe einen logischen Zusammenhang mischen einem Bodenstück und einer instabilen Stange herstellt. Es ist ein suchendes Vorgehen, das nicht automatisch erkennbar ist. Wir haben diesen Zusammenhang freilich immer zuvor erklärt; erst beim Schreiben kommt mir die Idee, einmal Freunde die Skulptur »suchen« zu lassen. Fest steht, daß die Teile logisch zueinanderpassen und nicht austauschbar sind: Zwar kann ein Stab gewiß auf einem stabilen Untergrund frei und ohne Glasscherbe stehen, doch ist es unsinnig, die Scheibe auf dessen Spitze zu balancieren.

Die Stangen sind schwer und aufgrund ihrer Länge unhandlich (210 cm hoch), man muß sie einzeln nehmen, man hält den Vierkant fest in der Hund; besser ist, ihn mit beiden Händen zu greifen. Das Gewicht einer Stange verstärkte meine Mutmaßung, daß es schwierig würde, sie zu stabilisieren, obwohl es wahrscheinlich physikalisch nur eine geringe oder gar keine Rolle spielen mag. Aber das weiß ich nicht, mir sind diese Gesetzmäßigkeiten unbekannt (Allerdings wächst mit jedem Aufstellen die Neugier, meine Erfahrungen naturwissenschaftlich erhärtet und dokumentiert zu erhalten).

Ich versuchte das Gewicht abzuwägen, kam jedoch zu keinem, für die Aufstellung sinnvollen Ergebnis. Dann stellte ich mich breitbeinig vor die Glasscheibe und ließ die Stange langsam und mit beiden Armen hinunter. Es erfordert einige Übung, die Stange kurz vor der Scheibe so abzubrernsen, daß sie nicht auf das Glas schlägt (dies ist mir wiederholt passiert), dann suchte ich den Vierkant zu postieren. Ich drehte die Stange hin und her, vermeinte, daß es an den Unebenheiten des Bodens läge, daß sie nicht stehenblieb, drehte weiter, kantete, verlagerte meine Füße etwas, um selbst ruhig zu stehen, stellte sie sehr bewußt sehr gerade auf. Es gelang mir nicht, nach zehn Minuten gab ich auf.

Ich war zu aufgeregt, um die Kräfte zu spüren, die sich in der Stange entwickelten. Nach und nach fand ich heraus, was und wie sich der Stab bewegte und wie ich darauf zu reagieren hatte - langsamer als Claudia, der es bald gelungen war. Überhaupt wurde es für mich zur Überraschung, daß es manchen unserer Freunde bereits beim ersten Versuch gelang, beide Stangen zueinander passend aufzustellen; dies macht mir bis heute Mühe. Woran das liegt, weiß ich nicht, es hat freilich mit mir zu tun.

Nach einiger Übung ist es nicht so schwer, einen Vierkant auf der Glasscheibe alleine zu lassen. Ich spüre nach einigen kurzen Drehbewegungen das Dreieck, auf dem die Stange fußt und wie sie dem Glas anzupassen ist; ja es gelang mir schon einmal, die Stange ganz lotrecht zu halten, sie auf die Scherbe niederzulassen und sie sofort freizugeben. Man erfährt bald die Ränder des Dreiecks, indem die Kanten gegen den Stab schlagen und man kann den Stab dadurch auspendeln. In mir entstand eine Beziehung zum Material, zu seiner Masse, dann auch zur Kraft, mit welcher der Stab zurückschlägt, wenn er mit einer Kante gegen das Glas stößt: große Energien werden erlebbar, werden haptisches, körperliches Erlebnis.

Je ruhiger ich bin und gelassener, um so eher erhalte ich das Gefühl, die Stange stabilisieren zu können. Dann spüre ich, wie sich das Gleichgewichtsniveau im Vierkant nach unten absenkt und dann pendelt die Stange nicht mehr so weit zur Seite hin aus. Ich bemerkte das Phänomen, daß sich die Kraft nach innen wendet, über den Stahl verströmt und nicht in einigen Punkten am Rande des Metalls ausschlägt. Dennoch scheinen die Kräfte unmittelbarer und energischer zu werden. Je besser der Stab ponderiert ist, umso kürzer und fester sind die Pendelbewegungen, aus der dann die Ruhephase eingeleitet wird. Die Stange wirkt dann nicht kraftlos, als sei sie allein den Händen und der Instabilität ausgeliefert: als würde die Schwerkraft gebündelt, punktiert, auf einen Punkt hin verstärkt und damit auf den Standpunkt verlagert. Die Stange schlägt nun aus, ohne ihren Schwergewichtspunkt zu verlassen, ja umgekehrt ist es so, als wolle sie ihn fixieren, ihm nahekommen. Er sackt spürbar nach unten ab, bis der Stab frei steht: ruhig und gelassen trotz aller Beweglichkeit. Nun ist die Skulptur frei. Die Blickkontrolle mit anderen Senkrechten des Raums zeigt zwar anfangs elastische Schwankungen, aber nach etwa zwanzig Sekunden ist das Metall dann vollends beruhigt, ist stabil, scheint mit der Erde verwachsen. Aus der schwerfälligen Masse (eigentlich dem Wortsinn entgegen: leicht fallend) der Stange ist behende Energie geworden, die das Objekt ausstrahlt und es von der Spitze bis zur Spiegelscheibe durchzieht.

Meine Gefühle gegenüber der eigenen Handlung sind dem Aufbauen durch Michael Witlatschil geschieden. Ich muß mich stärker konzentrieren, ruhig werden und auf das Objekt samt seiner Physik achten. Es ist kein passives Zusehen, es ist kein Machtproblern, eher eine entspannende Zwiesprache. Die Freude am Aufstellen verdanke ich mehr der Sinnlichkeit denn der beobachtenden Gewalt über ein Objekt. Ich kann meine Wahrnehmungsgabe in Anspruch nehmen und bestätigen, vielleicht ein Teil Naturbeherrschung angesichts der Schwergewichtskräfte und ihrer sanften Stabilisierung. Autoritäres Gebahren scheidet aus: man kann die Stange nicht zwingen, sich selbst nicht zusammenreißen. Doch habe ich unterschiedlichste Meinungen über die Standfähigkeit der Stangen gehört: von der festen Überzeugung, daß der Stahl a priori nicht stehen könne bis zur kindlichen Freude am Spiel.

Ein weitaus schwierigerer Teil des Aufbaus ist es, den zweiten Stab hinzuzufügen: Hier kann ich bis heute die Kräfte nicht so routiniert in den Griff bekommen, wie ich hoffte; es bleibt der Reiz eines ungewissen Abenteuers.

Steht eine Stange, so hole ich die zweite ruhig aus dem Kasten, noch immer in Angst, die erste könnte mir in den Rücken fallen (einmal begann sie tatsächlich zu kippen, doch fing sie ein Bekannter auf). Es beginnt nun ein etwas anderes Spiel. Den zweiten Stahl aufzusetzen, ist bereits schwieriger, denn leicht ist zu merken, daß dadurch die Spannung am Fuß, auf der Glasscheibe, verlagert wird und sich damit die Schwerkraftbedingungen der ersten Stange verändern: sie muß sich anpassen, einen Teil ihres Territoriums freigeben, ohne ihren eigenen Stand zu verlieren. Zudem werden andere Kräfte und Faktoren eingebracht, indem beide Stangen in ihren Kraftfeldern deckungsgleich werden und zu einem einheitlichen ästhetischen Objekt zusammengefügt werden. Dies bedeutet, beide Stangen möglichst nah beieinander auszurichten und ihre Spitzen so gegeneinander zu stellen, daß ein Pfeil oder eine Satteldachform entsteht.

Häufig fallen mir noch heute beide Stähle beim Aufstellen gegeneinander; das erzeugt einen klingenden, doch fast drohenden Ton, da die freien Schwingungen durch das stete Aneinanderstoßen abgebrochen werden. Wichtig wird, beide Stangen auf der Glasplatte frei zu postieren, ohne daß sie sich berühren und sich, weit voneinander entfernt, fremd bleiben. Doch: Je distanzierter sie stehen, umso leichter wird es, sie zusammenzustellen, da ich mich lediglich auf eine Stange konzentriere und die andere dennoch im Auge behalten kann. Allein ist dies nicht das Ziel. Entscheidend wird die Anziehung beider Stäbe zueinander und hierfür ist Konzentration auf die Schwankungen beider Stähle notwendig.

Beim Aufstellen werden zunächst große Abstoßungskräfte frei, welche die zweite Stange von der ersten abdrücken. Ich habe dabei stets das Gefühl, daß der erste Stahl verhindern möchte, daß der zweite in die Senkrechte überführt wird: der eine möchte den anderen labil halten, gönnt dem anderen die Selbständigkeit nicht. Aber vielleicht liegt dies allein an mir. Jedenfalls ist für mich in dieser Phase der schwierigste Teil der Aufstellung erreicht. Es sind aufregende Momente, die Abstoßungskräfte so fein zu überwinden, daß sich die Kraftfelder annähern, und die Stangen zu einem Objekt, zu einem Paar zusammenfinden.

Bisweilen stoßen die Spitzen auch aneinander, wenn der zweite Stab auspendelt, ohne daß die freistehende Stange umfällt (ein für mich eigenartiges Phänomen, wobei der freie Stahl den Konflikt besteht und den anderen stützt, ohne selbst aus dem Gleichgewicht zu geraten; aber vielleicht wachsen die Kräfte, wenn ein Konflikt ausgehalten wird). Es entwickelt sich ein deutliches Vibrieren der zweiten Stange, wenn sie der ersten nahe genug kommt, als würden die Kräfte gegeneinander wirksam. Umso erfreulicher ist das Gefühl, wenn beide Stäbe endlich fest stehen; es ist ein spürbares Ergebnis einer sinnvollen Aufgabe. Das Objekt steht dann wirklich, ist selbständig und hinterläßt einen unberührten Eindruck. Als Claudia und ich den Aufbau zum ersten Mal beendet hatten, haben wir es fotografisch dokumentiert; dies haben wir bei Freunden ebenso gehalten, indem wir uns - jeder für sich - dem gerade geschaffenen Werk zugesellten. Etwas seltsam scheint mir dieser Stolz schon zu sein, denn ich komme mir dann vor wie ein Tourist vor dem schiefen Turm von Pisa.

IV

Die Skulptur besteht aus Stahl und Glas. Es ist ein extrem sprödes, brüchiges, doch transparentes Material, das mit seinem direkten Gegensatz kor respondiert: stabil, elastisch, undurchlässig. Glas und Stahl sind ein Inbegriff moderner Ideologie.

Es sind Vierkantstäbe industrieller Fertigung, die Michael Witlatschil oben und unten unterschiedlich abgeschrägt hat, ohne daß dadurch der technische Charakter verlorenginge: ein vorgefertigtes, artifiziefles Produkt. Die durchaus massive Spiegelglasscheibe ist in ihrem Umriß unregelmäßig. Sie ist längst verbraucht, weggeworfen; gefunden für eine dadaistische Verfremdung. Ist der Stahl durch den Künstler ästhetisch gestaltet, so wirkt die Glasscheibe eher amorph, naturähnlich.

Die Farbigkeit der Skulptur ist grau. Dunkel ist der Stahl, dessen Schmalseiten hell, poliert sind und gegen das Matt einen Kontrast entwickeln. Die Polierung ergibt einen Spiegeleffekt ähnlich der Glasscheibe: das Material wird illusionistisch. Durch die stählem-reflektierenden Seiten werden die Begrenzungen der Vierkantstäbe zwar nicht aufgehoben, doch ist ihre Länge nicht mehr so bewußt vorherrschend; ihre Lebendigkeit öffnet sie nach oben und nach unten.

Die Skulptur ist schmal und hoch, doch verläßt sie nicht den Maßstab körperhaften Denkens; sie ist auf den Menschen bezogen.

Die-Skulptur ist einfach. Der traditionelle Sockel, Garant für stabile Verhältnisse und monumentalen Anspruch, ist einer Glasscheibe gewichen. Sie wirkt wie ein Naturersatz. Gewiß, Glas ist ein Naturprodukt, doch ist es nicht die Erde selbst, auf der die Skulptur steht. Zudem wird durch den Spiegel die Illusion betont. Blickt man in ihn, versinkt die Skulptur in die Tiefe. Dadurch wird der Aspekt des Sockels in Frage gestellt; ohnehin vertuscht er anscheinend die Befestigung, die man dann erwarten könnte, wenn man den Aufbau nicht mitvollzogen hat: sie müßte dann doch verzapft oder verdübelt sein, um stehen zu können. Dies wird dann durch die Glasscheibe verdeckt: Alles ist Illusion.

Der Sockel genügt als Standort, doch verweigert er einen Teil seiner Ideologie. Er ist überall verwendbar, entwurzelt, flexibel, austauschbar, ist nicht die solide Basis, die man sich wünscht; dies wird durch den schmalen Stand verstärkt.

Der Stahl ruht graziös. Der geschlossene Umriß und die obere Abschrägung fördern die Einheitlichkeit der anfragenden Skulptur, welche die Autonomie der Elemente vorderhand hinter sich läßt. Das Bildwerk zielt auf tektonische Körperlichkeit, so labil das Gleichgewicht scheint, so unangreifbar dieser Körper ist und damit das haptische Moment in Frage gestellt wird (Dies trifft auf den Benutzer der Skulptur nicht zu).

V

Diese Beschreibung ist bereits ein zweiter Aspekt der Aneignung. Die Gestaltassoziationen entstehen nach dem aktionistischen Teil. Es kommt hinzu, daß ich Konsthistoriker bin und ich versuchte, mir durch den Griff in die Kunstgeschichte darüber Gewißheit zu verschaffen, daß die Skulptur auch deswegen »Wert« erhält, daß es zwischen dem Werk Michael Witlatschils und der Geschichte der Kunst Verbindungen gibt. Daß dies zum einen eine Binsenweisheit, zum anderen eigene Legitimation war, davon später.

Man mag an antike griechische Kuroi, Standfiguren denken, auch an Auguste Rodins »L'homme qui marche« aus der Zeit kurz nach 1900, jedenfalls an eine zweibeinige Gestalt oder an Architektur, etwa an das »World Trade Center« in New York. Doch ist dies nur ein Teil des Konzepts: weder ist die Skulptur tektonisch noch architektonisch-bildhaft. Wenn ich allein diese Assoziationen bestätigte, hieße dies, mir selbst die Aktionsfähigkeit abzusprechen: statisch zu werden, Bilder festzuzurren, formal zu denken und zu handeln.

Ein weiterer Aspekt der Kunstgeschichte käme dennoch in Betracht. Die Stangen verhalten sich entgegen dem System des architektonischen Stahlskeletts, so assoziativ das Wort wirken mag; es bleibt illusionistisch. Das Smülskelett ist trotz inaterialbedingter Flexibilität passiv. »NäherungA« hat mit Architektur neben der Form lediglich Raumvorstellungen gemein. Die Einzelfornten mögen sich assoziativ-dekorativ annähern; das sei mir zugestanden, nicht aber unbedingt der Skulptur. Gewiß ist auch die Frage nach dem Ort und Raum wichtig, in dem die Skulptur zwar von allen Seiten aus umschreitbar, frei ist, auch meldet sie einen hohen Anspruch an ihr Umfeld an, doch kommuniziert sie nicht bildhaft, womit die Gestaltassoziationen fehlgehen: eben nicht ein Torso, eben keine traditionelle Standfigur. Sie hat den freien Raum als notwendige Ergänzung für ihre Form, aber sie verwächst nicht mit der Umgebung. Sie ist sich allein zugeneigt, bezieht ihre Ausstrahlung aus der eigenen Körperlichkeit. Darin scheint ein Widerspruch zu liegen: Sie benötigt ein möglichst freies Umfeld, doch ist ihre Ausdehnung auf jenes ideelle Maß beschränkt, welches die Glasscheibe zugesteht. Hier liegt ihre unangreifbare Umgebung, zu der der freie Blick fern von störenden linearen Achsen hinzukommt.

Durch die Glasplatte und die Stähle entsteht Spannung um die lapidare Form herum. Diese Elastizität wird zur ausstrahlenden Energie. Aus der technischen Gestalt wird Körperlichkeit gewonnen. Hierdurch verbinden sich die beiden Stäbe zu einer Skulptur; aus dem geringen, doch vollen Volumen des Stahls, dessen Gewicht spürbar bleibt, wird Plastizität: das Vermögen, sich selbständig auszudehnen, sich zu bewegen. Die Plastizität zielt auf die Selbständigkeit und Einheitlichkeit des bildhauerischen Körpers, der aus der Metallmasse und seinen Zwischenräumen Energien ausstrahlt. Sie sind am stehenden Gesamtkörper spürbar, nicht nur beim Aufstellen erlebt man die gebündelten Kräfte beider Stangen. Assoziiert man eine menschliche Gestalt, kann man den Eindruck einer homogenen klassischen Skulptur gewinnen. Durch den aktionistischen Aufbau ist jedoch bewußt, daß diese Einheitlichkeit erst durch die Eigenständigkeit beider Objektkörper hervorgerufen wird. Damit wird die Gestaltassoziation in andere Bahnen gelenkt.

Aus der Geschichte der Skulptur ziehe ich jene Formen vor, in der die erzählerischen Elemente zugunsten einer dynamisierten Erfahrung ersetzt werden und zugleich die vorgebliche Einheitlichkeit von Erzählung und Erfahrung aufgegeben worden ist. Mit ihr verschwinden hieratische Anschauungen, die aus einer wie auch immer vorbestimmten Objektivität vorgegeben werden; an ihre Stelle tritt die Subjektivität aller Erfahrungen. Das Individuum eignet sich die Welt nach eigenem Maßstab an, dies sollte auch mein Ziel werden.

Ich weiß von »dynamischen« Skulpturen, um die Aktivierung von Betrachter und Bildwerk etwa bei Constantin Brancusis »Vogel im Raum 1923,
VI

Ich näherte mich der Skulptur zunächst passiv als Betrachter, ich habe dies als autoritäre Handlung erlebt. Durch den Aufbau, den ich selbst vollzog, wurde ich aktiv und fühlte eine Entspannung. Dieser subjektiven, privaten Aneignung folgte die kunsthistorische Vergewisserung. Ich hatte Assoziationen, die sich an der Körperlichkeit festmachten. Es lassen sich stilistische Vergleiche fixieren, deren didaktische Einschätzung jedoch dann fehlgehen muß, wenn ich allein optisch - und damit stilistisch - argumentiert hätte, denn diese Ebene ist formal. Die Skulptur muß diese Vergleiche zulassen, erst durch die persönliche Aneignung wird ein reflektives und sinnliches Erleben möglich, das einem autonomen Kunstwerk nicht entspricht. Das haptische Erleben eines Werks erhält eine neue Dimension.

VII

Die Aufstellung der Skulptur in einer Ausstellung ohne Bewußtmachung dieser ästhetischen Erfahrung entspricht unserer Rezeptionstradition. Sie ist, wie man sehen kann, nicht vollständig, da sie unsere Erfahrungen als homogene Wahrnehmung benennen möchte. Optische Erfahrung ist reduzierte Erfahrung, entspricht jedoch unseren gesellschaftlichen Signalments am stärksten. Die Kenntnis der Aufbauerfahrung und die Bewußtwerdung des freien Standes können museal nicht vermittelt werden. Museal wird doppelbödig, indem die säkularisierte Aura des autonomen Kunstwerks die Sinne schleift und abstumpfen läßt. Arbeit und Produkt, Erfahrung und Besitz werden voneinander getrennt. Unsere ästhetische Kultur zementiert in diesem Fall Michael Witlatschils Skulptur zu einem Produkt, dessen statische Basis das museale Umfeld ist. Die Entfremdung in den Arbeitsprozessen und - ihr folgend - in der ästhetischen Aneignung sind Teil unserer Kultur. Michael Witlatschils Werke stellen diesen Kulturbegriff in Frage.

Der Bildhauer aktiviert die ästhetische Aneignung des Kunstwerks, indem der Rezipient die Aufforderung erhält, die Skulptur selbst aufzustellen. Bis dahin sind es für den Benutzer zwei Stahlstangen, die handwerklich bearbeitet sind. Die entscheidende Wichtigkeit dieser Bearbeitung bleibt verborgen, bis der Nutzer nach dem Aufstellen über das Gesehene und Gefühlte reflektiert. Die sinnenhafte Bewußtwerdung ist ein Aspekt der Reflektion über aktuelle Skulptur, die nicht affirmativ sein will. Hier gibt es Parallelen zu Franz Erhard Walter und zu Wolfgang Nestler. Der Betrachter von Kunst wird zu ihrem Benutzer, ohne den die ästhetische Produktion sinnlos wäre. Die Verzahnung zwischen Künstler, Objekt und Rezipienten ist kunstimmanent und reflektiv, sie umfaßt den subjektiven Bereich der Aneignung. Der bei Beuys angesprochene objektive Bereich kunsthistorischer Praxis ist nicht unmittelbarer Teil der Aktion. Hier ist über die Frage nach der Basis und über den Umraum der Skulptur zu diskutieren, denn die Skulptur ist an jedem Ort frei nutzbar, wenn der Kunstbetrachter zur Handlung motiviert werden kann. Dies wäre ein Teil der Aneignung, zu dem nicht unbedingt der Künstler selbst zur Stelle sein muß; ein Didaktiker kann hier vermitteln, ohne daß ein berufsspezifisches ästhetisches Handeln gefragt wäre.

Michael Witlatschils Skulptur betont durch ihre Sinnlichkeit die Komplexität von Erfahrung und stellt somit unsere Entfremdung in Frage. Sie wird zu einem Gegenüber, über dessen Energien man selbst Kraft gewinnen kann. Es sind nicht die flirrenden Farbraumkörper von Gerhard Mantz, der mir Michael Witlatschil empfahl; ihre Energie bezieht diese Skulptur aus der Schwer- und Fliehkraft. Es handelt sich nicht um einen technischen Apparat, es ist Kunst. »Danach wäre der reine Begriff von Kunst nicht der Umfang eines ein für allemal gesicherten Bereichs, sondern stellte jeweils erst sich her, in augenblicklicher und zerbrechlicher Balance, der psychologischen von Ich und Es mehr als nur zu vergleichen. Der Prozeß des sich Abstoßens muß immerwährend sich erneuern. Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick; jedes gelungene ein Einstand, momentanes Innehalten des Prozesses, als der es dem beharrlichen Auge sich offenbart. Sind die Kunstwerke Antworten auf ihre eigene Frage, so werden sie dadurch selber erst recht zu Fragen« (Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften 7. Frankfurt 1970). Was mehr? Hier wäre ein Ansatz zum Handeln und vielleicht sind die Voraussetzungen durch die Beschäftigung mit >Näherung A« von Michael Witlatschil günstiger geworden: Empfinden, Denken und Handeln könnten vielleicht einmal gemeinsam auftreten, wo auch immer.